BEETHOVEN STATT ROLLING STONES
Verhaltensmuster der Menschen lassen sich nicht hochrechnen
von Klaus-Peter Nicolay

14.04.2018 ► Oft genug frage ich mich, weshalb wir uns eigentlich noch immer und wiederholt auf Diskussionen einlassen, es würden immer weniger Drucksachen hergestellt, Bücher und Zeitungen seien zum Sterben verurteilt und überhaupt sei Print ein Auslaufmodell? Schuld daran, so heißt es dann gerne, sei die Digitalisierung und mit ihr die heranwachsende Generation, die zwar ein Smartphone freihändig bedienen könnte, dafür aber nicht mehr lese!
Das klingt im ersten Moment vielleicht schlüssig – solange man sein Gedächtnis nicht bemüht. Denn wer genauer hinsieht, erkennt den Unsinn der Argumentation. Jungen Menschen fehlt schlicht und einfach meist das Geld für Printmedien. Folglich werden andere Medien genutzt.
Und das war schon immer so. Seien wir doch ehrlich: Auch wenn wir uns heute zu den täglichen Zeitungslesern zählen, konnten wir uns als Jugendliche und Studenten auch kein Zeitungs-Abo leisten. So etwas ändert sich eben, wenn (Interesse vorausgesetzt) das notwendige Geld vorhanden ist. Denn das, was junge Leute heute tun, hat überhaupt nichts mit dem gemein, was sie in zehn oder 20 Jahren machen werden. Weil sich die Verhaltensmuster der Menschen nicht linear hochrechnen lassen, wie es Algorithmen (und Weltfremde) gerne tun, sondern sich permanent ändern.

Nicht nur PS

Den besten Beweis bietet doch folgende Beobachtung: Konzerthäuser sind noch immer voll besetzt und auch Opern werden gut besucht. Ja klar, könnte man einwenden, das sind ja auch keine Jugendlichen mehr. Stimmt. Aber: Sind das nicht dieselben Leute, die mit den Beatles, Rolling Stones oder Led Zeppelin groß geworden sind? Und nun hören sie Beethoven, Mozart und allerlei andere Klassiker? Wie passt denn das zusammen?
Sehr gut. Weil man sich einen Opern-Besuch leisten will oder kann, weil man die Faszination von Live-Konzerten schon früher erlebt hat, weil man den Wert von Gediegenem erkannt und weil man Qualität zu schätzen gelernt hat. Weil die Musik im Konzertsaal ›von Hand gemacht‹ ist und nicht aus der Konserve einer Hi-Fi-Anlage kommt oder nicht von einem Synthesizer stammt. Weil ein selbst erlebtes Symphonie-Konzert und auch eine Oper das gewisse „Mehr an Emotion“ bieten.
Natürlich kann auch blanke Technik begeistern, ist aber weder ein Grundbedürfnis noch ein Herzenswunsch der Menschen. So besteht ein Ferrari ja auch nicht nur aus PS, sondern aus vielen liebevoll zusammengestellten Details, die schlussendlich ein zweifellos kraftvolles, aber auch hoch emotionales Gesamtkunstwerk ergeben. Es sind also wieder einmal die Emotionen, die das gewisse Etwas ausmachen.

Rock and Roll und Symphonie

Das eine, eben Rock and Roll im Stadion, und das andere, die Symphonie im Konzertsaal, sind also gar nicht so widersprüchlich, wie es erscheinen mag. Und vor allem ist es keine Frage von ›Entweder oder‹, beides passt durchaus zusammen. Und die Emotionen verbinden beides.
Die sind es ja auch, was Drucksachen beflügelt und was sie so unvergleichlich macht. Und die Chancen, Drucksachen wieder intensiver im Medienmix zu platzieren, stehen nicht schlecht. Die massive Beschleunigung des Informationsflusses im Digitalen ist Grund dafür, dass die Menschen auch wieder zum analogen Lesestoff greifen und die Sinnlichkeit von Papier und Druck wiederentdecken.
Und das gilt nicht nur für das Buch. Um sinnliche Signale auf die Wahrnehmung einer Information zu übertragen, lassen sich die Wirkungen der Haptik, die von Grammatur, Papierqualität, Verarbeitung und Veredelung nutzen. In der Forschungsdisziplin Werbewirkung wird hier von Bedeutungszusammenhängen (Semantik) und Assoziationen gesprochen, die durch sinnliche Reize ausgelöst werden (Priming). So ›primen‹ Mailings oder Broschüren beispielsweise durch ihr Gewicht, ihre Konsistenz, Form und Textur der verwendeten Materialien oder durch ihren Öffnungsmechanismus. Ist die erste Hürde erst einmal genommen (auffallen kann eine Drucksache ja auch aufgrund ihres Formats, der Farbe und der Papierqualität) und der Verbraucher beschäftigt sich mit der Drucksache, machen Verstärker wie Wechselbilder (Lentikulardruck), Video-in-Print und Soundchips ein Druckprodukt in der Wahrnehmung äußerst dynamisch. Dabei können Effekte wie Laserstanzungen, ›maschinell Handgeschriebenes‹, Hologramme, Duft, Pop-ups und Rubbelflächen etc. den Empfänger immer dann positiv überraschen, wenn die Effekte zu einem beworbenen Angebot oder zum jeweiligen Inhalt passen.

Abseits der Pixelwelten

Drucksachen mit haptischen und emotionalen Reizen starten derzeit durch, da sie den Erfolg einer Botschaft entscheidend beeinflussen können. Doch angesichts höherer Kosten multisensorisch aufgewerteter Drucksachen stellt sich die Frage, ob der Aufwand dann auch wirklich gerechtfertigt ist?
Und dann sind wir wieder bei der Frage „Beethoven oder Rolling Stones“? Beides ist teuer, nur die Kleiderordnung unterscheidet sich. Wenn aber eine bessere Kundenansprache verbunden mit höheren Response-Quoten, eine bessere Vertriebsunterstützung und ein höherer Return-on-Investment die Zusatzkosten für aufwendiger produzierte Drucksachen ausgleicht, ist die Frage eher akademisch.
Und der Trend ist längst da: Immer mehr Unternehmen, vor allem Markenartikler, besinnen sich heute trotz ausgefeilter digitaler Strategien (im Internet oder mobil) wieder auf haptische Botschaften. Denn mit seiner Erlebnisstärke kann Print die Sinne abseits der kalten Pixelwelten viel gezielter und emotionaler bedienen.


 

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